Die Themen unserer Zeit

Die Diversity-Konferenz von Tagessspiegel und Charta der Vielfalt gehört mittlerweile zu den Pflichtterminen deutscher Diversity-PraktikerInnen. Die VeranstalterInnen verstehen dies durchaus als Auftrag, nicht nur aktuelle Themen zu präsentieren, sondern auch einen ansprechenden Methodenmix und eine thematische Breite zu bieten. Mit Erfolg.

Ein scharfer Gegenwind weht D&I ins Gesicht und so wollte die diesjährige Diversity-Konferenz von Tagesspiegel und Charta der Vielfalt Antworten geben, wie mit Populismus und Digitalisierung umgegangen werden kann. Im sorgenvollen Umfeld wollte sie auch Mut machen. Das gelang deutlich am Ende des zweiten Tages, als der Hirnforscher Henning Beck nicht nur die Vorteile des menschlichen Gehirns gegenüber Computern erläuterte, sondern auch die Vorteile, die der Austausch mit unterschiedlichen Menschen (aka Diversity & Inclusion) bietet.

Wolfgang in der Echokammer und Anneliese mit den vielfältigen Kontakten

An diesen Schnittstellen mit Anderen kommt es nämlich zu kreativen Musterbrüchen, die uns weiterbringen. Beck benennt jedoch auch – wie schon Johansson mit seinem Medici-Effekt – den Feind der Innovation: Netzwerke, in denen ähnlich denkende Menschen unsere Überlegungen bestätigten, unsere Ansätze loben und dadurch Entwicklung behindern. Etwas verschmitzt stellte Beck ‚Wolfgang‘ als archetypischen Vertreter dieses Verhaltens vor. Das Wohlfühlen in den sogenannten Echokammern wird heute durch Filterblasen verstärkt, die verhindern, dass kritische Informationen überhaupt zu uns durchdringen. Dafür erhalten wir umso mehr Botschaften, die bestärken, was wir denken, vermuten oder glauben wollen. Dem gegenüber ermutigte Beck die Anwesenden zum „Austausch mit Gemeinsamkeiten und Widersprüchen“, dieser sei ein „riesiger Gewinn für die Gesellschaft“. Für die erstrebenswerte Vernetzung über mentale Grenzen hinweg nutzte Beck – ganz diversity-konform – ‚Anneliese‘ als typische Vertreterin. Und sicherlich fühlten sich die allermeisten KonferenzteilnehmerInnen damit bestens beschrieben, ermutigt und bestätigt.

Ein Beitrag zu Echokammern im Bereich Diversity finden Sie hier: http://www.linkedin.com/pulse/what-di-can-learn-from-creative-professionals-michael-stuber/

Von Privilegien und moralischer Übersäuerung

Dabei hatte am Vortag der Journalist Holger Stark eine Folie geliefert, auf der kritische Selbstreflexion hätte stattfinden können. Er sprach – bezogen auf die USA – von einer „moralischen Übersäuerung“ als Resultat linksliberaler Entwicklungen, in deren Zusammenhang er das Gender-Sternchen beispielhaft nannte. Stark beschrieb deutlich, dass große Teile der US-amerikanischen Bevölkerung ihre Privilegien bedroht sähen und sie für einfache Erklärungen und Lösungen allzu empfänglich seien. Seine Beispiele zeigten, dass die Effekte der Globalisierung (Verlagerung von Jobs und Migration) und der Digitalisierung aber auch die Diversity-Politik eine Rolle spielen und zu „kultureller Entwertung und Kränkungserfahrung“ führten. Aus Diversity-Sicht hätten wertvolle Anstösse gegeben werden können, wenn die Moderation nach Einsichten aus den Analysen für die Zukunft von Diversity & Inclusion gefragt hätte.

Hier ein Beitrag, der diesen Konnex für den Fall des Google-Memos herstellt http://www.linkedin.com/pulse/google-memo-discussion-misses-point-question-must-why-michael-stuber/

Was eine Gesellschaft ausmacht – und wer daran mitwirkt

Auch ein weiterer Anstoß von Holger Stark verhallte im Verlauf der beiden Konferenztage. Er beschrieb die Auseinandersetzungen in den USA als einen „Kulturkampf um die Werte der Nation“. Weniger dramatisch formuliert ist tatsächlich zu beobachten, dass in den USA eine Diskussion über gesellschaftliche Werte geführt wird. Auch Moderator Malte Lehming fragte nach, ob die dortige Migrationsfeindlichkeit denn „ur- oder unamerikanisch“ sei. Stark beschrieb daraufhin eine Haltung in der US-Gesellschaft, die es in nahezu identischer Weise in Deutschland gibt: „Wir haben es [das Land] aufgebaut und Gesetze entwickelt“. Die Parallelen zu Deutschland und mögliche Konsequenzen blieben – auch im späteren Polit-Talk – unbenannt. Besteht nicht auch hierzulande die Notwendigkeit, eine breite Debatte über die Werte der Gesellschaft zu führen (bevor eine weitere Polarisierung eintritt)? Muss nicht auch hier den beliebigen Grenzziehungen entgegengewirkt werden, die zu Deutungshoheiten führen? Menschen, die 10, 50 oder 100 Jahre länger (oder kürzer) hier leben als andere, sollten nicht widerstandslos ‚Wir-sind-das-Volk‘ oder die Definition der ‚Leitkultur‘ beanspruchen dürfen.

Mehr über den Umgang mit Populismus finden Sie hier: http://de.diversitymine.eu/di-could-be-a-powerful-alternative-to-nationalism-if-pitched-effectively/

Zum Konzept der Leitkultur hielt der Vorsitzende der Berliner SPD-Fraktion, Raed Saleh, eine sehr persönliche Rede. Mit deutlichen Hinweisen auf intergrationsfeindliche Weichenstellungen der 1960/70er Jahre brachte er zeitgemäße Integration auf einen klaren Nennen: „Nicht zu fragen, warum trägst Du ein Kopftuch aber auch nicht zu fragen, warum trägst Du kein Kopftuch. Wir müssen dies gemeinsam aushalten.“

Eine Rundschau mit 11 Beiträgen zum Kopftuch aus 11 Jahren finden Sie hier: http://de.diversitymine.eu/?s=Kopftuch

Diversity doch ein gesellschaftliches Thema?

Dass Diversity vor allem ein Thema ethischer Verantwortung (und nicht nur Business Case) sein sollte, dafür plädierte zu Beginn der Konferenz der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber. Er stellte anhand eindrücklicher Beispiele dar, dass die typisierende Darstellung von Diversität nicht nur nicht vor Diskriminierung bewahrt, sondern dass die „Identitätsfalle“ – die Reduktion auf ein Merkmal – häufig und mitunter PR-wirksam zu Rassismus oder Islamfeindlichkeit geführt hat. Folgerichtig fordert Huber nicht nur „zivilgesellschaftliche Anstrengungen und politische Rahmenbedingungen“, um zu positiven gesellschaftlichen Auswirkungen zu kommen. Er schlägt vor, „von menschlicher Diversität nur dann [zu sprechen], wenn der einzelne Mensch – und nicht etwa unterschiedliche Arten von Menschen – das Subjekt dieser Diversität bildet“. Damit liegt er auf einer Linie von Diversity-Futuristen, die Individualität als das Paradigma für die Zukunft von D&I benennen: http://de.diversitymine.eu/analysis-10-di-pioneers-outline-the-future-of-di/

Visionen für D&I

Auch dieses Jahr wollte die Diversity-Konferenz in die Zukunft blicken und lud Menschen unterschiedlicher Bereiche ein, ihre Anregungen dazu zu geben. Die Professorin Katrin Hansen baute gewissermaßen auf Hubers Ansinnen auf, indem sie einen ganzheitlichen Stakeholder-Ansatz unter dem Dach von CSR vorschlug. Ähnlich umfassend beschrieb Nina Rehberg von der Stadt Köln die Zukunft. Die Idee vom Spiegel der Gesellschaft und den Wunsch, Politik, Stadtgesellschaft und Verwaltung zusammenzubringen verknüpfte sie mit der Notwendigkeit, ein gut laufendes System verändern zu müssen. Dem stimmte auch Robert Franken zu und stellte entscheidende Diversity-Change-Fragen: Wie man Systeme durchlässiger gestaltet, die nicht vielfältig sind, wie man Experimentierräume schafft und man Querdenker ins Unternehmen holt? Die IG-Metall stellt dazu den Start (2014) ihrer Diversity-Bestrebungen vor. Die Kampagne „Gefühlt bin ich…“ stellt einen Baustein ihres breit angelegten Diversity-Programmes dar. Dabei spielen Gemeinsamkeiten eine große Rolle – sie können Diversity eine lang versprochene verbindende Note geben und damit zukunftsweisend sein.

Einen Grundlagenartikel zur Zukunftsfähigkeit von D&I finden Sie bei der Spanischen Diversity Charta: http://fundaciondiversidad.org/too-much-of-the-same-thing/

Die digitale Zukunft der Wirtschaft

Dass diese Zukunft für uns Alle dramatisch anders aussehen wird, dies beschrieb – mit erfrischendem Witz – der Mathematiker und Ex-Manager Dr. Gunter Dueck. Eine wesentliche Erkenntnis: Auch die Digitalisierung polarisiert, und zwar die Arbeitswelt. Die meisten Jobs verändern sich so, dass sie entweder zu einfachen Hilfstätigkeiten oder zu hochqualifizierten Expertenpositionen werden. Was dies und andere Aspekte der Digitalisierung für das künftige Diversity-Management bedeuten könnte, wurde in den Pausen und einem eigenen Expertengespräch diskutiert. Die Moderatoren im Plenum, die der Tagesspiegel für verschiedene Keynotes separat aufbot, stellten leider kaum Bezüge zur Diversity-Praxis noch zu anderen Konferenz-Beiträgen her.

Eine kurze Analyse zu Diversity und Digitalisierung finden Sie hier: http://de.diversitymine.eu/digitalisierung-und-diversity/

Lieber einen angenehmen Überblick oder kritische Reflexion?

Thematische Verbindungen hätten an einigen Stellen der Konferenz echte Mehrwerte bedeutet und an anderen Punkten zu konstruktiven Reflexionen führen können. Eine Forscherin, die erstmals teilnahm, vermutete allerdings, dass die Veranstaltung eventuell nicht der richtige Ort für einen kritischen D&I Diskurs sei, sondern dass eine Stärkung der – häufig am Anfang stehenden PraktikerInnen – der Fokus sei und sein sollte. Eine andere Teilnehmerin wunderte sich dagegen, dass an vielen Stellen das kritische Nachfragen oder aufrüttelnde Statements ausblieben. Das galt auch für den Vielfaltsbotschafter des Deutschen Fußballbundes (DFB), Thomas Hitzlsperger. Er beantwortete brav, fast schüchtern, die Fragen des siebten männlichen Moderators (von 9), den der Tagesspiegel aufbot. Treffsicher beschrieb er die den Einfluss des Fußballs – oder ist es Übermacht? – und die damit verbundene Verantwortung für Vielfalt. Das Publikum erfuhr auch, dass es einen Unterschied zwischen einer „normalen Beleidigung“ und „Diskriminierung“ gäbe und dass das Thema Frauen in Führungspositionen bei DFB im Bereich gesellschaftliche Verantwortung angesiedelt sei. Das mutet bizarr an, denn die Frauennationalmannschaft ist (nach Titeln) seit vielen Jahren international deutlich erfolgreicher ist als ihr männliches Pendant. Gleichzeitig stiegen die Gehälter und Ablösesummen im Männerfußball weiter an. Zugegeben, derart kritische Sichtweisen wären zum Ende der Konferenz recht starker Tobak gewesen, und so blieb der Talk besser in der Wohlfühlzone. Auch für Hitzlsperger, der nur für sein kurzes Interview dabei war, war das gut so und er twitterte (womöglich im Namen Aller) im Anschluss „Freude war ganz meinerseits. Super Event! Weiter so!“. Wir schließen uns an, denn der Event leistet vor allem durch seine Magnetwirkung eine starke integrative Wirkung. Kritische Reflexionen außerhalb der Echokammer würden den Mehrwert – zumindest für neugierige oder fortgeschrittene PraktikerInnen – erhöhen.

Hier finden Sie den Schwester-Artikel über die Praxis-Seite der Diversity-Konferenz http://de.diversitymine.eu/diversity-konferenz-rundum-sorglos-in-2-tagen/