Ein Minenfeld blinder Flecken: Religion in Deutschland

Respekt, Gleichbehandlung und ein proklamiert säkulares Grundgesetz. Es hört sich einfach an und könnte eine harmonische Basis sein. Eine Professorin an der Universität Würzburg, die alle Kopfbedeckungen in ihrem Hörsaal abnehmen lassen wollte, stieß an eine der Grenzen der Gleichbehandlung. Einige neue Bundestagsabgeordnete versuchen derweil, für den Islam geringere Freiheitsgrade als für das Christentum zu definieren.

Es ist bezeichnend für die polarisierende Dynamik des Internet: Kurz nach einem „Kopftuch-Vorfall“ an der Universität Würzburg sprachen Webseiten von Diskriminierung, einer Attacke, einem Eklat und persönlicher Diffamierung. In ihrer Einführungsveranstaltung zum Basismodul „Internationale Beziehungen“ hat Frau Prof. Dr. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet die anwesenden Studierenden gebeten, ihre Kopfbedeckungen abzunehmen. Laut Presseerklärung pflegt sie dies „seit vielen Jahren (…) als Zeichen des Respekts vor einer universitären Einrichtung und vor mir als vortragender Professorin“ zu tun. Sie ist Inhaberin der Professur für Europaforschung und Internationale Beziehungen sowie geschäftsführender Vorstand des Instituts für Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Würzburg.

Base-Cap gemeint, Kopftuch getroffen

In der Regel ziele ihre Bitte auf Männer ab, die Basecaps tragen, führte die Pressemitteilung aus. Und diese seien der Bitte immer nachgekommen. Als jetzt eine Studentin als Einzige ihre Kopfbedeckung – ein Kopftuch – nicht ablegen wollte, hat Prof. Müller-Brandeck-Bocquet auf die Gleichbehandlung von Männern und Frauen hingewiesen und ihre Missbilligung zum Ausdruck gebracht. Die Studentin berief sich auf die Religionsfreiheit und behielt ihr Kopftuch auf. Über den weiteren verbalen Austausch und dass zahlreiche Studierende aus Protest gegen die Professorin den Hörsaal verlassen hätten, gibt es unterschiedliche Aussagen und Darstellungen. Gegenüber der „Augsburger Allgemeinen“ erklärte die Studentin auf Nachfrage, das Tragen des Kopftuches sei ihre „eigene freie Entscheidung. Niemand zwingt mich dazu, auch nicht meine Eltern“. In der „Mainpost“ zitiert sie mit den Worten „So wurde ich noch nie belästigt.“

Klare Stellungnahme der Universität – Aufruhr der Gesellschaft

Bevor die Universität ihre Position darlegen oder die Professorin sich korrektiv äußern konnte, hatte der Fall bereits Online-Wellen geschlagen. Kommentare wie „öffentliche Demütigung“, „nicht tragbar“ und der Ruf nach „Konsequenzen“ waren rasch veröffentlicht. Die Universität Würzburg äußerte sich zu dem Fall, indem sie Religionsfreiheit als „selbstverständliches Prinzip“ bestätigte und klarstellte, dass keine Vorschriften oder Richtlinien existierten, die das Tragen eines Kopftuches untersagen würden – weder den Studierenden, noch dem Lehrpersonal oder anderen Beschäftigten. Diese Klarheit wirft jedoch die Frage auf, wie eine Professorin (im Umfeld von Politikwissenschaft und Soziologie) mit ihrem Verhalten Botschaften vermitteln konnte, die deutlich anders verstanden wurden und auch nach sachlicher Einlassung nicht rasch zur Einsicht gelangte.

Die Spaltung im Netz als Indikator einer Wertekrise?

Die Berichte zu dem Fall werden im Netz erwartungsgemäß kontrovers kommentiert. An vielen Stellen wird die islamisch motivierte Kopfbedeckung als mittelalterlich bezeichnet oder Szenarien von Fußwascheinrichtungen als mögliche Folge beschrieben. Diese Kommentare und die trotzige Aufforderung, Männer sollten nächstens mit Hut erscheinen und sich auf Gleichberechtigung berufen zeigen vor allem zwei Phänomene: Verbreitetes Unwissen und eine geradezu hanebüchene Vermischung von Bedeutungsebenen. Dass rituelle Handlungen im Zusammenhang mit dem Betreten einer Moschee (es gibt ähnliche beim Besuch eines Gottesdienstes) ins Feld geführt werden, sollte ebenso verstören wie das Urteil „antiquierter Traditionen“ – denn der nicht als solcher kritisierte Katholizismus ist ein paar Jahrhunderte und das Judentum ein paar Jahrtausende älter.

Wie passt der Islam – oder auch der Katholizismus – zu einer freiheitlichen Demokratie?

Auf Welt.de / N24 findet sich eine Großzahl von Stimmen, die die Anti-Kopftuch-Haltung ausdrücklich loben und mitunter den Islam als „nicht integrierbar“ bezeichnen. Diese Sichtweise vertrat auch eine AfD-Vertreterin in einem Fernsehinterview, in dem sie forderte, der Islam müsse sich hierzulande zur demokratischen Grundordnung bekennen und dazu von der Scharia lossagen, da diese nicht mit dem hier geltendem Recht vereinbar sei. Dass Regeln von Glaubensgemeinschaften im Widerspruch zu deutschen Gesetzen stehen, wird seit langem am Fall der katholischen Kirche thematisiert, die mit staatlicher Finanzförderung eine große Zahl von Arbeitsplätzen in ihrem eigenen Rechtsraum mit festgeschriebener Diskriminierung betreibt. Und dass das strenge Befolgen religiöser Regeln im mitteleuropäischen Alltag schwer möglich ist, zeigen auch Erfahrungen jüdischer BürgerInnen.

Kritische Selbstreflexion, saubere Gleichberechtigung und sachorientierte Regelungen

Was diese Beispiele zeigen können ist, dass es selbstverständlich nicht einfach ist, einen gemeinsamen Weg zu finden, in dem sich das Miteinander für alle Beteiligten respektvoll und gleichberechtigt darstellt. Zu offensichtlich sind die Befindlichkeiten sowohl auf Seite der althergebrachten Vorrechte wie auf der Seite der ‚Anderen‘.

  • Diversity kann dabei helfen, die vielschichtigen Dynamiken auch und gerade mit Hilfe von Perspektivwechseln und Kontextualisierungen zu durchdringen.
  • Equality kann dabei helfen, Privilegien und Benachteiligungen zu erkennen und einen Rahmen zu finden, der für Alle grundlegende Rechte festlegt. Die grundlegende Religionsausübung dürfte kaum strittig sein, wohl aber, welche Elemente dazuzuzählen sind (Scharia, Kopftuch, Arbeitsverhältnisse nach kanonischem Recht?).
  • Inclusion kann dabei helfen, in der Kommunikation und im Zusammenleben eine Kompatibilität herzustellen. An dieser Stelle sind zum Beispiele Feiertagsregelungen oder Schlachtungsrichtlinien zu diskutieren.

Der unmittelbar bevorstehende 500. Reformationstag sollte Deutschland daran erinnern, dass auch vergangene Erweiterungen der religiösen Realität hierzulande keine einfache Lösung vorfanden. Dass die Wahrung – und Stärkung – von Grundrechten inklusive der Nicht-Diskriminierung für alle (!) Religionen gilt, sollte sich von selbst verstehen. Dass die AfD an dieser Stelle anti-diskriminatorische Forderungen an den Islam stellt ist nicht glaubwürdig, da sie selbst für den Abbau des Diskriminierungsschutzes eintritt. Dass Sonderregelungen, wie sie derzeit für die katholische Kirche (z. B. in Form des kanonischen Rechtsraumes) bestehen, auf den Prüfstand müssten, jedoch nicht thematisiert werden, zeigt wie groß die blinden Flecken innerhalb einer Kultur sein können. Gleichzeitig ist Vorsicht und Sorgfalt bei der Integration von Religionen in staatlichen und gesellschaftlichen Kontexten geboten. Aus europäischer Sicht gibt es im Falle des Islam derzeit Warnsignale in und aus Ländern, in denen Menschenrechte mit religiösen Begründungen eingeschränkt werden, sei es bezogen auf Frauen, Homosexuelle oder Andersgläubige. In diesen Hinsichten haben jedoch auch (z. B.) der Katholizismus und die orthodoxen Kirchen – sozusagen naturgemäß – Verbesserungsbedarfe. Diese sollte als Chance für eine Modernisierung der Religionen und echte Integration in konsequent säkulare oder laizistische Systeme verstanden werden.