Mit einer „beleidigenden Gegenüberstellung“ äußerte sich gestern Stephan Mayer, CSU Vorstandsmitglied, im WDR Fernsehen zu den sogenannten bürgerlichen Positionen seiner Partei. Dabei stellte er Minderheiteninteressen einer „schweigenden Mehrheit“ gegenüber. Eine Analyse gesellschaftlicher Daten wirft Fragen auf: Nur 9 Millionen Menschen passen gänzlich zu den CSU Positionen.
Eine überschlägige Berechnung der Forschungs- und Beratungsfirma „Ungleich Besser Diversity Consulting“ zeigt, dass die Annahme einer schweigenden Mehrheit in der Gesellschaft keine zahlenmäßige Grundlage aufweist. Vielmehr stellten die als solche zitierten Minderheiten insgesamt eine deutlich größere Gruppe als der Teil der Bevölkerung, den die CSU als gesellschaftliche Mehrheit propagiert. Dass diese als Klientel-Politik kaschierte Populismusstrategie Erfolg haben kann, zeigten die Wahlergebnisse in mehreren Ländern.
Politik dezidiert gegen sogenannte Minderheiten
Die kontrovers diskutierten Politikschwerpunkte mancher Länder und einiger rechter Parteien weisen eine Gemeinsamkeit auf: Eine Feindseligkeit gegenüber Minderheiten. Welche dies im Einzelnen sind, hängt von den jeweiligen lokalen Gegebenheiten ab. In Ungarn wettert die Regierungspartei gegen nicht-vorhandene Flüchtlinge, in den USA gegen Latinos und in diversen Ländern gegen Homosexuelle. In Deutschland hatte sich die öffentliche Diskussion im Wahlkampf überwiegend auf den Themenbereich der Geflüchteten konzentriert. Nachdem Alexander Dobrindt (CSU) vergangene Woche in einem Zeitungsbeitrag eine „konservative Revolution“ gefordert hatte, konkretisierte sein Parteikollege Stephan Mayer (CSU Vorstandmitglied), einige Aspekte.
Partikularinteressen gegen schweigende Mehrheit
In einem Fernsehinterview mit Martin von Mauschwitz, WDR aktuelle Stunde (4.1.2018), befand Mayer, dass in den letzten Jahren „zu sehr Partikularinteressen im Vordergrund standen“ und „Minderheiteninteressen zu stark Gehör gefunden haben“. Welche konkreten Initiativen er damit meinte, ließ er im Unklaren – die Positionen seiner Partei zu LGBT oder migrationspolitischen Themen sowie zu Diversity-bezogenen Regulierungen der Arbeitswelt stehen hier indes im Raum. Schärfe erhält seine Beobachtung dadurch, dass die CSU „deutlich machen [wolle], dass bürgerliche Positionen durchaus mehrheitsfähig sind“ und man „der schweigenden Mehrheit (…) eine stärkere Stimme in Berlin geben“ wolle. Beobachtern zufolge ist hierhin eine direkte Parallele zum Wahlkampf von Donald Trump zu sehen, der die Gesellschaft verbal spaltete (und spaltet): In Minderheiten und die gewollte Mehrheit.
„Beleidigende Gegenüberstellung“
Eine deutliche Zuspitzung erhielt das Statement von Mayer, indem er die von ihm sogenannte schweigende Mehrheit dadurch beschrieb, dass sie „hart arbeiten, um 5 Uhr, um 6 Uhr aufstehen, nicht von der Sozialhilfe leben (…)“. Diversity-Experte Michael Stuber bezeichnete dies als „beleidigende Gegenüberstellung“, da erstens der Eindruck entstünde, Minderheiten arbeiteten nicht hart und lebten häufig von Sozialhilfe. Zweitens, so Stuber, spricht Mayer von einer nicht nachvollziehbaren Mehrheit. Auch wenn es eine konservative Mehrheit gäbe, so sei diese nicht an demographischen Eckpunkten festzumachen.
Die Datenlage in Deutschland: Die Minderheiten stellen die Mehrheit
Basierend auf den aktuellsten Daten des Bundesamtes für Statistik errechnete Ungleich Besser Diversity Consulting das Vielfaltsprofil der deutschen Bevölkerung*. Dies zeigt, dass sich Mayer auf eine Gruppe von rund 9 der 82 Millionen hier lebenden Menschen (11%) beziehen kann. In der Gruppe aller Erwachsenen (64 Mio.) bilden Ältere, Schwerbehinderte, MigrantInnen und Schwule und Lesben kombiniert eine knappe Mehrheit. Die verbleibende Hälfte beinhaltet vielfaltsaffine Gruppen wie Alleinstehende (inklusive Alleinerziehende), nicht-eheliche Lebensgemeinschaften (ohne gleichgeschlechtliche) und Deutsche, die mit ausländischen PartnerInnen verheiratet sind. Da Mayer politische Schwerpunkte auf Kinder legte (Kindergeld und Mütterrente erhöhen), wurde der Anteil kinderloser Ehen (55%) aus der Restgruppe herausgerechnet.
Vergiftung des Klimas und Missbrauch von Minderheiten
Angesichts der Datenlage könnten Diversity-ExpertInnen den Äußerungen gelassen gegenüberstehen. Allerdings zeigten die Wahlen in den USA, dass Frauen und Minderheiten durchaus empfänglich für Botschaften sind, die augenscheinlich gegen sie gerichtet sind. Verantwortlich dafür sind erworbene Privilegien, die sie gegen kreierte Feindbilder verteidigen möchten. Insofern wäre der Angriff auf Minderheiten ein taktisch kluger Zug der CSU. ExpertInnen äußern sich dennoch bestürzt, denn eine „Vergiftung des Klimas“ (Stuber) und ein machttechnischer „Missbrauch von Minderheiten“ wie in den USA oder in Polen seien eine Gefahr für Deutschland. Gerade die Wirtschaft, für die sich die CSU ebenfalls einsetzen möchte, ist mehr denn je auf Vielfalt und eine produktive Nutzung von Unterschieden angewiesen.
Was kann Diversity tun?
Diversity-PraktikerInnen verfügen über wichtige Kernkompetenzen, subtile Ausgrenzungen zu erkennen und ihnen zu begegnen. Beliebige Auswahl von Kriterien/Gruppen, bevorzugende/benachteiligende Regelungen, selektive Hervorhebungen, als Fakten dargestellte Behauptungen, Generalisierungen und Stigmatisierungen sind altbekannte Mechanismen radikaler Systeme, die in Gruppenexperimenten reproduziert wurden. Dies zeigte die Bedeutung jedes einzelnen Elements und damit die Notwendigkeit, jedem Symptom sofort zu begegnen. In einer Serie von Zukunftstraktaten schrieb die Diversity-Pionierin Julie O’Mara in Profiles for Diversity Journal (Herbst 2017): Diversity kann nicht länger unpolitisch bleiben.
Aus Datensicht ist noch hinzuzufügen: Die gesellschaftlichen Gruppen, die zur erhobenen Vielfalt beitragen, sind in den letzten 10 Jahren überwiegend größer geworden. Und: Mit einer Erhöhung des Kindergeldes würde die CSU migrantische Familien besonders fördern – sie haben seit vielen Jahren eine höhere Geburtenrate als deutsche Familien.
Weitere Informationen und Analysen
Zuwanderung als Teil deutscher Identität http://de.diversitymine.eu/deutschland-braucht-ein-einwanderungsgesetz-vor-allem-fuer-das-eigene-selbstverstaendnis/
Benachteiligungsrealität http://de.diversitymine.eu/im-alltag-und-bei-der-arbeit-diskriminierung-bleibt-eine-realitaet-in-deutschland/
Mit Nationalismus umgehen http://de.diversitymine.eu/latest-examples-fighting-nationalism-with-comedy-or-science/
Integrative Umsetzung von Diversity http://de.diversitymine.eu/mehrwerte-und-fortschritte-mit-diversity-komplexitaet-gestalten-und-nerven-bewahren/
CSU Sprachschranke http://de.diversitymine.eu/csu-aufgepasst-so-geht-willkommenskultur-potenzial-prinzip-statt-sprachen-schranke/
Betreuungsgeld http://de.diversitymine.eu/quote-und-betreuungsgeld-externe-blickwinkel-auf-die-deutsche-politik/
* Die Berechnung erfolgte überschlägig anhand aktueller Zahlen auf www.destatis.de. Diese unterliegen folgenden Einschränkungen: Für manche Kategorien wurden Gesamtanteile rechnerisch auf Teilgruppen angewendet (z. B. Anteil der Alleinstehenden von 20-65 Jahren an der Gesamtbevölkerung oder Anteil nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften an allen Paaren). Dies war in den fraglichen Fällen plausibel.