Kulturelle Vielfalt: Kontext ist alles

Welche Dynamik sich zwischen zwei Kulturen entfaltet hängt nicht nur von den jeweiligen (vermeintlichen!) Besonderheiten ab, sondern wesentlich von örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten. Dieser sogenannte Kontext ist entscheidend für das Verständnis inter-kultureller Prozesse. Dies gilt umso mehr, als dass sich Werte, Grundannahmen, Normen oder Maßstäbe mit dem jeweiligen Kontext verändern – bis hin zu willkürlichen Festlegungen. Kontext-Kompetenz wird damit zum Erfolgsfaktor im Umgang mit kultureller Vielfalt.

Wer aufmerksam reist, kann die Bedeutung des Kontextes an lebendigen Beispielen anschaulich erkennen. Beispiel Kapverdische Inseln. Früher eine portugiesische Kolonie und Drehscheibe des inter-kontinentalen Sklavenhandels, heute eines der 10 ethischsten Reiseziele der Welt (laut Ethical Traveler). Dort finden wir eine sichtbare Gruppe von Straßenhändlern, die Kunsthandwerk anbieten. Sie seien aus dem Senegal, heißt es, und weitere Recherchen zeigen, dass sie als gesellschaftliche Randgruppe leben und wenig angesehen sind. Im Senegal, wo sich das namensgebende Cabo Verde, das grüne Kap, befindet, herrscht eine ähnliche Situation. Auch dort sind es Migranten aus den Nachbarländern, die am Rande der Gesellschaft leben; hier kommen sie aus Guinea Bissau oder Mauretanien. Die Situation eines Senegalesen hängt also stark von dem Kontext – in diesem Fall Ort und Zeit – ab.

Dienstleistungsqualität und kulturelle Wertigkeit

Eine ähnliche Dynamik ist in der Dienstleistungsmigration zu erkennen. Aus Norditalien reisen Patienten zu Zahnärzten oder Kieferorthopäden nach Kroatien. Man vertraut auf die Qualität und profitiert vom niedrigeren Preis. Patienten aus Kroatien reisen – aus den gleichen Gründen – nach Bosnien-Herzegowina zu den dort ansässigen Spezialisten. In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob dieselbe Leistung nicht tatsächlich als ‚weniger Wert‘ – angesichts des geringeren Preises – angesehen wird, zumal das jeweilige Nachbarland in Fragen der Lebensqualität niedriger eingeschätzt wird.

Problematische Wirtschaftsflüchtlinge

Im Rahmen europäischer und internationaler Migration hat sich das Unwort der Wirtschaftsflüchtlinge etabliert. Es transportiert die Grundannahme, dass Flüchtlinge auch oder vor allem aus ökonomischen Motiven ihr Land verlassen. Dies gilt aktuell, bezogen auf Zuwanderer nach Mittel-/Westeuropa, als problematisch. Umso mehr angesichts politisch beförderter Vorannahmen über geringe Qualifizierung, Kriminalität oder kultureller Inkompatibilität. Den früheren „Gastarbeitern“ erging es in den 1960er Jahren ähnlich; allerdings wurden sie dringend benötigt (d. h. der Kontext war ein anderer) und daher angeworben – wenn auch mitunter zähneknirschend. Anders die Flüchtlinge der Nachkriegsjahre. Sie wurden als Deutsche angesehen, die in ihre ‚Heimat zurückkehren‘ (sic). Wirtschaftliche und kulturelle Fragen waren auch dabei problematisch, wurden aber mit politischem Willen und durch Kontextverschiebung gelöst.

Deutsche Wirtschaftsflüchtlinge

Gänzlich in Vergessenheit geriet die Tatsache, dass eine große Zahl von Deutschen ihr Land (in den 1920ern) als Wirtschaftsflüchtlinge verließ. Sie wurden in den USA aufgenommen und stellen dort heute – so berichtet The Economist – die größte landsmannschaftliche Gruppe dar. Ein geschichtliches Bewusstsein für die eigene Wirtschaftsflucht herrscht in Deutschland ebenso wenig wie für die Milliardenhilfen aus dem Ausland, die dem Land aus den Trümmern halfen oder für die Tendenz, im Ausland die eigene Kultur exzessiv auszuleben. Hierzulande verbittet man sich genau dies von Immigranten. Die Bedeutung des Kontextes und der Macht, diesen zu Verschieben (aka Definitionsmacht oder Deutungshoheit) tritt hier deutlich zu Tage, zudem die Notwendigkeit der umfassenden Selbstwahrnehmung (oder auch Selbst-Bewusstsein).

Kulturelle Vielfalt im Kontext „Management“

Die Internationalisierung der Wirtschaft führte konsequent zu einer Internationalisierung des Managements: auf allen Führungsebenen (wenn auch nicht in allen Unternehmen) finden sich heute Führungskräfte mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen. In westlichen Ländern, mit Sicherheit jedoch in Deutschland, fällt dabei auf, dass die Management-Vielfalt stark westlich dominiert ist, während z. B. die umworbenen BRICS Staaten und andere Wachstumsmärkte kaum bis gar nicht vertreten sind. Ebenfalls sehr selten sind obere Führungskräfte aus einer Migrantengruppe des jeweiligen Landes (Türken in Deutschland, Maghrebiner in Frankreich) [vgl. hierzu diese Studie]. Dass Interkulturalität für inländische und internationale Migranten unterschiedlich bewertet wird, bildet selbst für CEOs mitunter einen Aha-Effekt.

Kontext-Kompetenz als kultureller Erfolgsfaktor

Für die praktische Arbeit an kultureller Vielfalt bedeuten diese Erkenntnisse zum Kontext zunächst, dass die Anwendung der beliebten Schablonen von Hofstede, Trompenaars oder Hall problematisch sind. Sie vernachlässigen den Kontext und wenden stattdessen Maßstäbe an, die aus selektiven Stichproben abgeleitet wurden. Deutlich differenzierter arbeiten explorative Modelle wie die von Lewis oder Rapaille.

In der Personalentwicklung und vor allem der Weiterbildung von Führungskräften kommt der Ausweitung von Kontext-Kompetenz eine besondere Bedeutung zu. Ohne die Reflexion örtlicher und zeitlicher Gegebenheiten sowie getroffener Festlegungen (Maßstäbe, Grundannahmen) kann kein produktives Verhältnis zwischen Kulturen entstehen. Hier wird die Nähe zum Konzept von Unconscious Bias sichtbar: Schieflagen erkennen, In-Group- und Out-Group-Mechanismen verstehen und systematische Benachteiligungen adressieren. Ein differenziertes Diversity-Verständnis hilft einmal mehr, die Dynamik von Unterschiedlichkeiten – hier: Kulturen – zu ergründen und in eine mehrwertige Gestaltung von Vielfalt zu überführen.