Die Aktion Mensch macht nicht nur Menschen durch ihre Soziallotterie glücklich, sie verfügt auch über Expertenwissen zur Barrierefreiheit. In einem Workshop bei der Diversity Konferenz von Tagesspiegel und Charta der Vielfalt stellte ein Team Neuerungen im Bereich Barrierefreiheit vor.
Gleich zu Beginn trafen die ReferentInnen ins Schwarze: Bei Barrierefreiheit denken viele Menschen vor allem an bauliche Maßnahmen. Dort sind sie nicht nur mitunter sichtbar – und häufig praktisch –, sondern auch in vielen Fällen vorgeschrieben. In den Bereichen Kommunikation, vor allem online, sei Barrierefreiheit dagegen ein spannendes Thema und das solle im Fokus des Workshops stehen. Zunächst aber hörten die TeilnehmerInnen Grundlagen zu den Unterschieden zwischen Exklusion, Integration und Inklusion und erfuhren, dass das Inklusionsverständnis der Aktion Mensch eine Beteiligungsmöglichkeit an allen gesellschaftlichen Prozessen umfasse. Für Menschen mit einer Behinderung sei Barrierefreiheit jedoch eine Voraussetzung für die mögliche Teilhabe und mithin eine Besonderheit in diesem Diversity-Handlungsfeld.
Nötig für manche – gut für alle
Den Paradigmenwechsel vom – längst vergessenen – „Behindertengerechten“ hin zur Barrierefreiheit unterstrich der Workshop mit Beispielen, die zeigen, dass es in den meisten Fällen nur vorrangig um gezielte Lösungen für Gruppen mit einer bestimmten Behinderung geht. Eine wirklich effektive Lösung zeichnet sich dadurch aus, dass sie einer großen Zahl von Menschen zugutekommt. Als Beispiele wurden Fahrstühle genannte, die für Menschen mit Rollstuhl unerlässlich, für Senioren, Kinder oder Menschen mit schwerem Gepäck notwendig und darüber hinaus für alle Menschen hilfreich sind. Ein weiteres Beispiel stammt aus dem Bereich des Universal Design. Das Design für Alle strebt eine Produktgestaltung an, die einer möglichst großen Gruppe eine leichte Nutzung ermöglicht und dabei attraktiv ist. Als Alltagsbeispiel dient ein Sparschäler, der für Links- und Rechtshänder und damit für alle geeignet ist, die einen Sparschäler benutzen können. Werden Produkte von vorneherein auf ihren universellen Einsatz hin geplant, so entstehen durch Universal Design keine Zusatzkosten. Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (2014) erarbeitete fünf „handlungsleitende Kriterien für KMU zur Berücksichtigung des Konzepts Design für Alle in der Unternehmenspraxis“, die glücklicherweise einfacher ausfallen als ihr Titel:
- Gebrauchsfreundlichkeit
- Anpassbarkeit
- Nutzerorientierung
- Ästhetische Qualität
- Marktorientierung
Der erwähnte Sparschäler erfüllt diese Kriterien ebenso wie eine einhändig nutzbare Salatschleuder oder ein Flachstecker für Elektrogeräte, der nicht nur hinter viele Möbel passt, sondern sich auch leicht aus der Steckdose hebeln lässt.
Barrierefreie Kommunikation kann viele Facetten annehmen
Im Bereich der Kommunikation gibt es verschiedene Aspekte, unter denen mehr oder weniger Barrierefreiheit entstehen kann. Die Sprache kann beispielsweise ‚einfach‘ gewählt werden. Dies ist für 10% der Menschen (z. B. mit einer Lernbehinderung) unerlässlich und für 30% nötig bzw. wichtig (z. B. die gerade Deutsch erlernen). Für alle Menschen kann es hilfreich sein, einfache Sprache zu nutzen. Ein irischer Energieversorger setzte diesen Leitgedanken um, indem er eine Kundeninformation strikt nach dem Grundsatz „versteht unser Kunde das?“ entwickelte.
AudioVisuell und barrierefrei
Eine weitere Facette der barrierefreien Kommunikation findet sich im Bereich „AudioVisuell“. Hier stellte der Workshop zwei Kino Apps vor, die Audiodeskription bzw. Untertitel bereitstellen. Bei dem Hinweis, dass damit auch Menschen mit einer Behinderung „ganz normal ins Kino gehen“ könnten schaute sich allerdings manche TeilnehmerInnen etwas verunsichert um und an. Tatsächlich bieten die App Greta und die App Starks über intelligente Technik synchrone Audiodeskriptionen bzw. Untertitel für blinde/sehbehinderte bzw. gehörloste/ertaubte Menschen.
Für Bewegtbilder im Internet existiert ein Videoplayer, der zuschaltbare Features (Einblendung von DGS Übersetzung, Audiodeskription oder Untertitel) ermöglicht. Wie im Fall der Kinofilme muss freilich das jeweilige Video produktionsseitig mit den entsprechenden Informationen bestückt worden sein.
Gute Gestaltung – für alle
Einen weiteren Bereich bilden Gestaltungsprinzipien. Hier steigt die Barrierefreiheit mit dem Kontrast und dadurch, dass keine Information nur durch Farbe wiedergegeben wird – Beispiel: Statt Ausfüllpunkte in grün, gelb und rot sollte der Grafiker grüne Haken, gelbe Ausfüllkästchen und rote (Warn)Dreiecke verwenden, so dass die Information auch dann erhalten bleibt, wenn die Farbunterschiede nicht wahrgenommen werden. Eine weitere Steigerung der Zugänglichkeit entsteht durch ausreichende Abstände zwischen Bedienelementen und alle NutzerInnen des Internet würden sich wohl freuen, wenn Videos nicht automatisch starteten (und dabei lärmten). Ob diese Diskussion gegen die Marketer zu gewinnen sein mag, sei dahin gestellt.
Screen Reader – der Schnellsprecher für flinke Köpfe
Deutlichen Eindruck hinterließ die praktische Vorführung eines ScreenReaders, der die Inhalte eines Bildschirms per Sprachausgabe vorliest. Hierfür muss freilich Test als Text (und nicht als Grafik) hinterlegt sein und alle Grafiken und Bilder müssen mit Alternativtext versehen sein. Im Falle von Webseite sollte eine klare, gut nachvollziehbare Struktur vorhanden sein, mit als solchen gekennzeichneten Überschriften, Fließtexten, Listen etc. Beim beispielhaften Einsatz des ScreenReaders durch einen routinierten User staunten die TeilnehmerInnen über die Geschwindigkeit, mit der er sich die Texte vorlesen ließ. Die meisten im Raum konnten nämlich nicht folgen. Bis zur vierfachen Geschwindigkeit könne er – gerade bei bekannten Strukturen – verarbeiten. Dies war ein weiterer eindrücklicher Beweis dafür, dass der Körper auf eine Einschränkung in einem Bereich mit höheren Kompetenzen in anderen Feldern reagieren kann.
Aktion Mensch & Barrierefreiheit