Für neu gegründete Unternehmen, vor allem mit digitalem Geschäftsmodell, galten etliche Jahre lang überschwänglich positive Vorannahmen: Chancengerecht, multikulturell, innovativ, flexibel. Nun zeigen sich andere Realitäten.
Sie sind die goldenen Kälber der Wirtschaft: Start-ups als Vorbilder für Smart Working, als Vorreiter für Purpose und nicht zuletzt als Investitionsobjekte. Nur langsam entsteht ein differenzierteres Bild, das auch unschöne Begleiterscheinungen benennt. Erfahrungsberichte Einzelner (sogar in Buchform) oder desaströse Bewertungen auf Bewerber-/Mitarbeiterplattformen bilden sichtbare Aspekte. Ausgewachsene Skandale bei den Start-ups von gestern geben Hinweise, was unter der Oberfläche schlummern könnte.
Es scheint, dass eine ganze Branche an ihren hochgelobten Besonderheiten erkrankt und in mancher Hinsicht zu scheitern droht.
Trial-and-Error im Greenfield
Das Internet als Land der unbegrenzten Geschäftsmöglichkeiten gibt einen demokratischen und fairen Anschein: Jede und jeder mit einer coolen Idee kann diese verwirklichen und damit erfolgreich sein. Zu den impliziten Annahmen gehört, dass man sich nicht darum kümmern muss, was es in der ‚alten Welt‘ eventuell schon gegeben hat –alles kann und soll neu erfunden werden. Dass dies eine mitunter flache Lernkurve in Form von Trial-and-Error und immense Kosten mit sich bringen kann, wird dann übersehen, wenn man es sich leisten kann.
Die Jeder-kann-alles-Kultur bewirkt ein attraktives Selbstbewusstsein bei allen Beteiligten. Wo die Grenze zur Selbstüberschätzung verläuft, bleibt immer wieder unbeachtet. Ein Diversity-Ansatz würde hier helfen, objektiver auf Stärken, Talente und Potenziale zu blicken.
Vereint im Corporate Bashing
Verbunden mit dem ganz eigenen Geschäftsumfeld und –ansatz kultivieren manche Start-ups eine Antipathie gegenüber traditionellen Großunternehmen. Nicht nur deren Produktionsanlagen gelten als altmodisch, auch die Strukturen und Kulturen bieten breite Angriffsflächen, die aus Diversity-Sicht gleichermaßen gesehen werden. Start-ups zeigen folglich selten Interesse an Good oder Best Practices der Großunternehmen. Stattdessen bestätigen traditionelle Konzerne die Vorbildfunktion der jungen Wilden, indem sie Startups (mitunter einseitig) hofieren, beklatschen und besuchen.
Da einige der Bewunderungskategorien mit Diversity verknüpft sind, kann man aus dieser Perspektive fragen: Werden Start-ups den Erwartungen gerecht?
Schlechte Zahlen – Kaum verlässliche Prozesse – Implizite Kulturen
(1) Haben Start-ups vielfältige Belegschaften, deren Mischung sich proportional über Bereiche und Ebenen verteilt?
Einige der quantitative Analysen zeigen, dass Start-up Branchen meist doppelt männlich geprägt sind:
- Die technologie-basierten Geschäftsmodelle finden ein Überangebot männlicher Bewerber und
- die Rolle des Gründers und Unternehmers gilt weiterhin – z. B. bei Investoren – als eine männliche.
Und tatsächlich zeigen die einschlägigen Übersichten erfolgreicher Start-ups nahezu ausschließlich männliche Erfolgsgeschichten von Menschen, von denen viele zuvor in Konzernen gearbeitet haben. Die wenigen öffentlichen Zahlen zeigen zudem, dass Start-ups sehr ähnliche Schieflagen in ihrer demographischen Verteilung über Funktionen und Ebenen aufweisen, wie traditionelle Unternehmen.
(2) Können Start-ups mit neuartigen Prozessen glänzen, die ohne Altlasten historischer Prägung entstanden sind?
Während es hierzu keine verlässlichen Daten gibt, zeigen Erfahrungen im Umgang mit (auch großen) Start-ups, dass fehlende Prozesse in Kombination mit fehlender Erfahrung zu einem Moving-Target-Symptom führt: Vorgehensweisen, für die es objektive, meritokratische und akzeptierte Modelle gibt werden intransparent, ‚flexibel‘ und – da man gerne auf einem weißen Blatt beginnt – ineffizient umgesetzt. Dass hierbei oft keine positiven Ergebnisse entstehen, kennt man aus den Erfahrungen mit inhabergeführten KMUs.
(3) Punkten Start-ups mit ihren vorbildlichen, offenen, flexiblen und partnerschaftlichen Unternehmenskulturen?
Bedingt durch viele technologie-basierte Geschäftsmodelle fällt es Start-ups leicht, flexibles Arbeiten nicht nur anzubieten, sondern tatsächlich zu fördern – in allen Bereichen und Formen. Smart working als No-Brainer. Andererseits zeigen kleinere und größere Skandale (Sexismus…) und vor allem markant negative Bewertungen von MitarbeiterInnen und BewerberInnen, dass unvermutete Schieflagen in der scheinbar coolen Welt bestehen. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass auch Start-ups nicht immun gegen manche Gesetze der Organisationspsychologie sind.
Und wenn sie doch ganz menschlich sind?
Eine naheliegende Vermutung besteht darin, dass auch Startups ungeschriebene Gesetze entwickeln, die als Bias – auch gegen Diversity – wirken. Dabei könnte zum Beispiel die Internetkultur bewirken, dass die Bedeutung der Selbstdarstellung in einem bestimmten Moment eine überhöhte Bedeutung erhält. Damit bleiben Leistungen – zum Beispiel im Jahresverlauf oder in anderen relevanten Disziplinen – unterbelichtet. Das unterschiedliche Selbstmarketing (nach Gender oder Kultur) verstärkt dabei Diversity-Schieflagen.
Das von Innovation, Anerkennung und wirtschaftlichem Erfolg verwöhnte Selbstverständnis von Start-ups legt zunächst keine Reflexion oder gar Selbstzweifel nahe. Ähnlich wie bei sogenannten Knowledge-Organisationen besteht die Gefahr der Nabelschau, die durch Echokammern keineswegs gebannt werden kann. Denn das gewollte Defizit an Vielfalt – z. B. in Bezug auf Alter, Berufs- oder Branchen-Erfahrung – verhindert eine kritische Perspektive, die in älteren und größeren Organisationen (bei allen Nachteilen) ein On-board Feature darstellt.
Wir stehen wieder am Anfang
Diese und weitere Überlegungen lassen vermuten, dass Start-ups mit manch bekannten Syndromen zu kämpfen haben (sollten). Sie haben es jedoch möglicherweise noch schwerer, diese zu erfassen und negative Auswirkungen (an) zu erkennen.
Diversity & Inclusion Management bietet auch für Start-ups effektive Ansatzpunkte, Talente und Potenziale, Werte und Einstellungen sowie Verhaltensweisen und Prozesse im Kontext ihrer Geschäftsmodelle zu reflektieren – und womöglich zu verbessern.
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